Vom Loslassen und Weitergehen
Das ist so leicht gesagt: „Du musst halt loslassen!“ Loslassen ist hoch im Kurs, habe ich den Eindruck – zumindest auf Ratgeberseite: Führungskräfte sollen loslassen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vertrauen. Trauernde bekommen den schlauen Rat loszulassen, wenn das Umfeld meint, es sei doch nun auch mal gut mit dem Trauern. Und im Privaten scheint man mit Minimalismus und Loslassen die meisten seiner Probleme lösen zu können.
Steht man auf der Seite der Betroffenen, ist Loslassen genau das Gegenteil von dem, was ich machen will. Es geht ja um etwas, das mir wichtig ist, da schaue ich doch nicht einfach, was passiert. Das ist etwas Wertvolles, das ich nicht verlieren will. Da lass ich doch nicht einfach los. Wer loslässt, gibt Kontrolle ab. Akzeptiert, dass die Dinge sich entwickeln, wie sie sich entwickeln. Lässt es sein, lässt locker.
Loslassen als existenzielle Fähigkeit
Worum geht es denn aber eigentlich, wenn man vom Loslassen spricht? In der Existenzanalyse ist das Loslassen ein elementarer Teil der ersten Grundmotivation: des Könnens.
Alfried Längle, der Begründer der Existenzanalyse, geht von insgesamt vier Grundmotivationen aus: Dem Können, Mögen, Dürfen und Sollen. Diese vier Säulen sind es, die den Menschen zum erfüllten Leben und zu einem starken inneren Willen befähigen.
Das Können ist die erste Säule. Sie umfasst einerseits die persönlichen Kompetenzen und Fähigkeiten und andererseits die Möglichkeiten und Begrenztheiten, mit denen man in verschiedenen Situationen konfrontiert ist. Ein eingängiges Beispiel dafür, was Längle damit meint, ist der Klavierspieler: Er hat die Kompetenz und Fähigkeit, Klavier zu spielen. Verwirklichen kann er sie aber nur, wenn ihm auch ein Klavier – also die Möglichkeit – zur Verfügung steht. Andernfalls kommt er nicht ins Können.
In dem Moment kommt das Loslassen ins Spiel. Denn was tun mit einer Situation, die einen mit dem Nicht-Können konfrontiert? Ein Beispiel aus der Führung: Da will ich als Führungskraft, dass ein Mitarbeiter sich um eine bestimmte Sache kümmert. Ich übergebe Aufgabe und Befugnisse und biete meine Unterstützung an. Aber nichts passiert. (Oder zumindest nicht so, wie ich es mir wünsche.) Ich versuche herauszubekommen, woran es liegt. Steuere nach. Führe Gespräche, hinterfrage vielleicht die Aufgabe, mache sie noch mal deutlicher. Passiert immer noch nichts, fange ich vielleicht irgendwann an, Druck aufzubauen, Erwartungen klarer zu formulieren, drohe vielleicht mit Konsequenzen.
Akzeptieren, dass ich nicht kann
All das hat mit Loslassen nichts zu tun. Es ist genau das Gegenteil. Ändert sich trotz aller Bemühungen und Gespräche nichts am Verhalten des Mitarbeiters, muss ich irgendwann einsehen, dass ich mit ihm nicht erreichen kann, was ich will. Ich bin in meinem Können begrenzt. Ich habe zwar die Fähigkeit zu delegieren und mit dem Mitarbeiter auch die Möglichkeit dazu, bin aber darin begrenzt, wie ich ihn beeinflussen kann – ich kann ihn ja nicht tragen. Es ist also irgendwann notwenig zu akzeptieren, dass ich in diesem konkreten Fall nicht kann, was ich will. Dieses Akzeptieren ist der erste Schritt dahin, dass ich wieder ins Können komme. So lange ich versuche, es doch noch zu ändern, mich darüber wundere oder ärgere, dass das doch nicht sein kann, verweile ich im Nicht-Können und werde immer frustrierter. (Und der Mitarbeiter vermutlich auch).
Die Tatsachen so zu akzeptieren, wie sie nun mal sind, ist der erste Schritt zum Loslassen. Der zweite Schritt ist das Trauern, das mir erlaubt, loszulassen und mich anderen Möglichkeiten zuzuwenden. Das bringt oft Entspannung mit sich und natürlich auch Enttäuschung, Traurigkeit und Wut. Mir wird bewusst, wie wertvoll mir das war, was ich vorhatte. Ich bin traurig, zwischendurch auch wütend, dass es nicht gelungen ist. So nehme ich Abschied, von dem, was ich gerne verwirklicht hätte und lasse los. Damit werde ich wieder handlungsfähig, bekomme Boden unter die Füße, von dem aus ich wieder ins Können kommen kann.
Klingt so einfach, wenn ich das so beschreibe? Wenn man drinsteckt, ist es das natürlich nicht. Es ist ein Prozess und je wichtiger mir war, was ich nicht verwirklichen kann, um so schmerzlicher ist es. Und dann muss ich ja auch noch erkennen, ob es schon Zeit zum Akzeptieren ist oder ob es noch Hoffnung gibt. Deshalb kann es gut sein, sich Unterstützung zu holen, wenn man nicht weiterkommt. Im Aussprechen klärt sich vieles. Das hilft zu erkennen, wo der Boden fest ist und wo es lohnt loszulassen.